Hier wird Kino zum Ort der Entschleunigung: In ihrem neuen Film erzählt die Japanerin Naomi Kawase eine außergewöhnlichen Liebesgeschichte und sorgt für audiovisuelles Kopfkribbeln.
Was soll ein Fotograf machen, der sein wichtigstes Werkzeug, das Augenlicht, verliert? Immerhin sind Bilder sein Lebensinhalt, und ohne Sehkraft ist dieser Lebensinhalt nicht viel wert. Soll er weitermachen und sich auf sein Gefühl verlassen? Beethoven wurde ja bekanntlich auch taub und komponierte dennoch weiter. Oder soll er sich einen neuen Sinn suchen? Denn jedes seiner geschossenen Bilder, das der Fotograf nicht sehen kann, streut Salz in die Wunde namens Blindheit.
In genau diesem Dilemma befindet sich der Fotograf Masaya Nakamori in Naomi Kawases Film „Radiance“, mit dem die Japanerin 2017 im Wettbewerb des Filmfestivals von Cannes vertreten war.
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Nakamori bleibt ein kleiner trüber Fleck, durch den er seine Umgebung wahrnimmt. Dieser Fleck beginnt sich allmählich zu schießen wie eine schwere Tür. Seine schleichende Blindheit ist unheilbar, und das zu akzeptieren, fällt Nakamori schwer. Immer wieder greift er zu seiner Kamera, seinem „Herz“ wie er es nennt, und macht Bilder, die er kaum erkennt.
Aus Kritik wird Zuneigung
Da trifft es sich gut, dass er zur Testgruppe der Audiotexterin Misako Ozaki gehört. Die junge, ruhige Frau schreibt Hörfassungen von Filmen für sehbehinderte Menschen, und zu ihrer Arbeit gehört der Austausch mit Blinden, die ihr Hinweise zu ihren Texten geben. Mit seinem Gefühl für Bilder ist Nakamori dafür prädestiniert. Und so macht er Misako schon früh äußerst unsanft darauf aufmerksam, dass ihre bisherige Fassung zu aufdringlich sei. Misako bringe zu viel ihrer eigenen Emotionen in die Hörfilmfassung, es gehe aber darum, dem Publikum seine Vorstellungskraft zu lassen.
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Nakamoris Kritik wird dabei nicht nur zum Ausgangspunkt eines intensiven Schaffensprozesses vonseiten Misakos. Sie wird auch zum Keim der sich entwickelnden Liebesbeziehung zwischen dem Fotografen und der Texterin.
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Während Nakamori lernen muss, sich an seine kurze Zeit später eintretende, vollständige Blindheit zu gewöhnen und Abschied von der Fotografie zu nehmen, beginnt Misako ihre Umwelt stärker anhand von Geräuschen und Formen wahrzunehmen.
Film als ASMR-Erlebnis
Dadurch wird der Film zu einem wahren ASMR-Erlebnis. Beim Internetphänomen des sogenannten Autonomous Sensory Meridian Response sollen Videos, in denen Geräusche besonders intensiv wahrgenommen werden, für eine Art Kopfkribbeln sorgen. Bei Naomi Kawase entwickelt die Geräuschkulisse ihres Films eine ähnlich hypnotisch-beruhigende Wirkung. Hier rauscht der Wald, da knistert Feuer, dort kratzt Nakamoris Blindenstock über den Asphalt. Wer sagt, dass Kino immer nur eine visuelle Erfahrung sein muss?
Kino, so sagt es eine Frau aus Misakos Gruppe, sei für sie der Wegbereiter zu einer neuen Welt, der man sich Schritt für Schritt nähert, und die jeder individuell erfährt. Diese Prämisse versucht Naomi Kawase ebenso umzusetzen wie ihre Protagonistin Misako: Die Geschichte, deren Drehbuch die japanische Autorenfilmerin ebenfalls verfasste, lässt viele Leerstellen, die die Zuschauer mit ihrer eigenen Imagination füllen können.
Die Gründe für die Trennung Nakamoris von seiner Frau oder den Tod von Misakos Vater werden etwa bewusst offengelassen. So kann sich jeder Zuschauer der Vorgeschichte des Paars auf seine eigene Art und Weise nähern.
Kawase, die regelmäßig auf den großen Filmfestivals der Welt zu Gast ist, ist mit „Radiance“ ein Arthouse-Film gelungen, der all das erfüllt, was man im Vorfeld von ihm erwartet: Er ist behutsam, berührend, unaufgeregt und bildstark – aber auch langsam und sprachlich zum Teil etwas dick aufgetragen.
Kino als Ort der Entschleunigung
Wenn Misako und Nakamori im Schein der untergehenden Sonne stehen und vom Knirschen ihrer Herzen sprechen, wirkt das Drehbuch doch sehr zum Poetischen hin konstruiert. In diese übereifrige Poetik reihen sich auch die vielen Sonnenaufgänge und -untergänge des Films ein, die wirken, als seien sie von Caspar David Friedrich inszeniert worden.
In „Radiance“, das ebenso wie der japanische Originaltitel „Hikari“ mit „Licht“ übersetzt werden kann, wird das Kino zum Ort der Entschleunigung, aber auch der Sensibilisierung für Ton. Man kann phasenweise problemlos die Augen schließen und bekommt dennoch mit, was genau passiert – und das nicht nur an den Stellen, wo der Film gezeigt wird, dessen Hörfassung Misako erarbeitet. Das macht „Radiance“ – trotz der bisweilen abgehobenen Dialoge – zu einem originellen, audiovisuellen Filmerlebnis, zu dem die wunderbare Musik von Ibrahim Maalouf ebenfalls beiträgt.
Und wo soll ein Film, der die Kraft seiner selbst thematisiert, anders enden als in einem Kinosaal? Zum Schluss hat es Misako geschafft: Ihre Hörfassung berührt das Publikum, die blinden Kinobesucher haben Tränen in den Augen. Unter ihnen sitzt ein gewisser ehemaliger Fotograf, der sich entschlossen hat, keine Bilder mehr zu schießen, sondern sie fortan mit den Ohren zu sehen.